BAG zur Zeiterfassungspflicht: Entscheidungsgründe liegen nunmehr vor - mehr Klarheit, aber auch weiter Fragen offen

Von DR. ARTUR KÜHNEL, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Partner

Bekanntlich hat das Bundesarbeitsgericht mit Beschluss vom 13.9.2022 (1 ABR 21/22) entschieden, dass Arbeitgeber aufgrund unionsrechtskonformer Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG gesetzlich verpflichtet sind, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen. Nunmehr liegen auch die vollständigen Entscheidungsgründe vor. Diese liefern einige Erkenntnisse, auch wenn (natürlich) noch Fragen offen bleiben.


Bekanntlich hat das Bundesarbeitsgericht mit Beschluss vom 13.9.2022 (1 ABR 21/22) entschieden, dass Arbeitgeber aufgrund unionsrechtskonformer Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG gesetzlich verpflichtet sind, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen. Bisher lag nur die Pressemitteilung zu dieser Entscheidung vor. Basierend hierauf habe ich diese im Blogbeitrag BAG statt Gesetzgeber: Pflicht zur Zeiterfassung à la EuGH gilt bereits jetzt!) vorgestellt. Nunmehr liegen auch die vollständigen Entscheidungsgründe vor (Link zum Volltext).

 

Die der Entscheidung vom BAG vorangestellten Leitsätze lauten:

 

1. Arbeitgeber sind nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verpflichtet, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer zu erfassen, für die der Gesetzgeber nicht auf der Grundlage von Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG eine von den Vorgaben in Art. 3, 5 und 6 Buchst. b dieser Richtlinie abweichende Regelung getroffen hat.

 

2. Dem Betriebsrat steht kein – über einen Einigungsstellenspruch durchsetzbares – Initiativrecht zur Einführung eines elektronischen Systems zu, mit dem die tägliche Arbeitszeit solcher Arbeitnehmer erfasst werden soll.

 

Bei einer ersten Lektüre der Entscheidung fällt Folgendes auf:

 

Der Antrag des Betriebsrats war nur auf ein Initiativrecht und nicht auf die weitergehende Feststellung bezogen, ihm stehe ein Mitbestimmungsrecht bei einer vom Arbeitgeber geplanten Nutzung einer elektronischen Zeiterfassung zu. Der Betriebsrat konnte laut BAG nicht bindend vorgeben, auf der Grundlage welcher Rechtsnormen ein Antragsbegehren zu prüfen ist.

 

Wie bereits aus der Pressemitteilung bekannt ist, steht dem vom Betriebsrat geltend gemachten Initiativrecht laut BAG § 87 Abs. 1 Eingangshalbs. BetrVG entgegen, da die betreffende Angelegenheit bindend und abschließend gesetzlich geregelt ist. Und Arbeitgeber sind schon kraft Gesetzes verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem Beginn und Ende und damit die Dauer der Arbeitszeiten einschließlich der Überstunden in ihrem gemeinsamen Betrieb erfasst werden (Zeiterfassungspflicht). Diese gesetzliche Zeiterfassungspflicht leitet das BAG aus einer europarechtskonformen Auslegung des § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG ab.

 

Europarechtskonforme Auslegung des BAG

Das BAG begründet in der Entscheidung recht ausführlich, dass und warum § 16 Abs. 2 ArbZG (begrenzte Zeiterfassungspflicht) aus seiner Sicht nicht erweiternd europarechtskonform ausgelegt werden kann (siehe im Einzelnen die Randnummern 25 ff. der Entscheidung) und warum dies bei § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG (allgemeine gehaltene Norm des Arbeitsschutzes) hingegen möglich und geboten ist (siehe im Einzelnen die Randnummern 20 ff., 42 ff. der Entscheidung).

 

Mir persönlich kommt bei der Auslegung des § 16 Abs. 2 ArbZG – auch gemessen an den Vorgaben des BVerfG zu so einer Auslegung in anderen Zusammenhängen (vgl. dazu etwa im Blogbeitrag Zeiterfassung à la EuGH: "erst in Zukunft" vs. "schon jetzt") – die Auslegung nach Sinn und Zweck etwas zu kurz und wird die Auslegung anhand der Gesetzeshistorie zu sehr betont (Letztere wurde bei anderen Gelegenheiten auch schon einmal für nicht beachtlich gehalten). Das BAG hat jedoch angenommen, dass der Weg über § 16 Abs. 2 ArbZG eine Auslegung „contra legem“ wäre, uns sich für den Weg über § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG entschieden.

 

Weitere Aussagen des BAG

Folgende interessante Aussagen trifft des BAG darüber hinaus:

 

Entgegen einiger Stimmen in der Literatur stellt das BAG Folgendes klar:

  • Nicht nur Messen, sondern Aufzeichnungspflicht: Das Zeiterfassungssystem darf sich – trotz des vom EuGH verwendeten Begriffs der „Messung“ – nicht darauf beschränken, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit (einschließlich der Überstunden) lediglich zu „erheben“. Diese Daten müssen vielmehr auch erfasst und damit aufgezeichnet werden. Anderenfalls wären weder die Lage der täglichen Arbeitszeit noch die Einhaltung der täglichen und der wöchentlichen Höchstarbeitszeiten innerhalb des Bezugszeitraums überprüfbar. Auch eine Kontrolle durch die zuständigen Behörden wäre sonst nicht gewährleistet.
  • Nicht nur Bereitstellung zur freiwilligen Nutzung: Die Pflicht zur Einführung beschränkt sich zudem nicht darauf, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmern ein solches Zeiterfassungssystem zur freigestellten Nutzung zur Verfügung stellt. Nach der Rechtsprechung des EuGH muss er hiervon auch tatsächlich Gebrauch machen und es damit verwenden.

 

Das BAG meint, dass bei § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG eine Auslegung dahingehend möglich ist, dass auch solche organisatorischen Maßnahmen erfasst werden, die im Allgemeinen „zur Durchführung“ des Arbeitsschutzes geeignet sind- und nicht nur „zur Planung und Durchführung der Maßnahmen nach Absatz 1“ der Norm. Damit scheint das BAG einige – nach Veröffentlichung der Pressemitteilung –in der Praxis/Literatur erwogene Ansätze zu verwerfen, dass die Zeiterfassungspflicht ggf. nur abhängig von den konkreten Umständen im Betrieb und der Gefährdungslage bestehen würde.

 

In diesem Zusammenhang verweist das BAG auch darauf, dass das ArbZG die Anwendung des ArbSchG nicht ausschließt und dass bereits der EuGH klargestellt hat, dass die Arbeitsschutzrichtlinie neben der Arbeitszeitrichtlinie zu beachten ist.

Laut BAG bezieht sich die aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG ergebende Zeiterfassungspflicht – wie für die Mitbestimmung nach § 87 BetrVG allein erheblich – auch auf alle im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer i.S.d. § 5 Abs. 1 Satz 1 BetrVG. Ausnahmen hiervon sind derzeit nicht gegeben. Nach Art. 17 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie grundsätzlich mögliche Sonderregelungen für Arbeitnehmer hat der Gesetzgeber (bislang) nicht getroffen.

 

Laut BAG steht dem Betriebsrat – vorbehaltlich ggf. anderweitiger künftiger Regelungen durch den Gesetzgeber – für die Ausgestaltung des Zeiterfassungssystems nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG i.V.m. § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG ein Initiativrecht zu (siehe im Einzelnen die Randnummern 60 ff. der Entscheidung). Wegen des Charakters von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG als arbeitsschutzrechtliche Rahmenvorschrift und der in diesem Zusammenhang bei ihrer Ausfüllung zu beachtenden unionsrechtlichen Vorgaben kann der Betriebsrat sein Initiativrecht allerdings nicht auf eine Zeiterfassung in elektronischer Form beschränken. Wörtlich führt das BAG insoweit aus (gekürzt um die Zitate):

 

„Dabei besteht – solange vom Gesetzgeber (noch) keine konkretisierenden Regelungen getroffen wurden – ein Spielraum, in dessen Rahmen ua. die „Form“ dieses Systems festzulegen ist. Bei ihrer Auswahl sind vor allem die Besonderheiten der jeweils betroffenen Tätigkeitsbereiche der Arbeitnehmer und die Eigenheiten des Unternehmens – insbesondere seine Größe – zu berücksichtigen. Wie der Verweis des Gerichtshofs auf die Schlussanträge des Generalanwalts erkennen lässt, muss die Arbeitszeiterfassung nicht ausnahmslos und zwingend elektronisch erfolgen. Vielmehr können beispielsweise – je nach Tätigkeit und Unternehmen – Aufzeichnungen in Papierform genügen. Zudem ist es, auch wenn die Einrichtung und das Vorhalten eines solchen Systems dem Arbeitgeber obliegt, nach den unionsrechtlichen Maßgaben nicht ausgeschlossen, die Aufzeichnung der betreffenden Zeiten als solche an die Arbeitnehmer zu delegieren. Bei der Auswahl und der näheren Ausgestaltung des jeweiligen Arbeitszeiterfassungssystems ist jedoch zu beachten, dass die Verbesserung von Sicherheit und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeit Zielsetzungen darstellen, die keinen rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden dürfen. Solange (und soweit) der Gesetzgeber den ihm zustehenden Spielraum bei der Ausgestaltung der unionsrechtlichen Arbeitszeiterfassungspflicht nicht ausgeübt hat, können die Betriebsparteien und – im Fall ihrer fehlenden Einigung – die Einigungsstelle nach Maßgabe des § 87 Abs. 2 BetrVG entsprechende Regelungen treffen. Ihnen kommt insbesondere ein Gestaltungsspielraum dahingehend zu, in welcher Art und Weise – ggf. differenziert nach der Art der von den Arbeitnehmern ausgeübten Tätigkeiten – die Erfassung von Beginn und Ende der Arbeitszeit im Betrieb zu erfolgen hat.“

 

Insoweit darf angesichts der Konzeption der Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG das Ziel der von den Betriebsparteien zu treffenden Maßnahmen laut BAG nicht von vornherein zu eng gefasst werden (wie etwa auf eine rein elektronische Zeiterfassung) – auch mit Blick auf eine etwaige Regelung erst durch die Einigungsstelle. Wird der Regelungsauftrag einer solchen Einigungsstelle nämlich zu weitgehend beschränkt, besteht die Gefahr, dass sie die dem Arbeitgeber obliegende Handlungspflicht inhaltlich nicht ausgestalten kann, weil ihr durch die Begrenzung des Regelungsauftrags der gesetzlich vorgesehene Gestaltungsspielraum – teilweise – genommen wird. Dies hätte zur Folge, dass eine effiziente Umsetzung des gesetzlichen Arbeitsschutzes im Betrieb nicht gewährleistet wäre. Konkret auf den vorliegenden Fall bezogen führt das BAG insoweit wörtlich aus:

 

„Eine Beschränkung der zu regelnden betrieblichen Angelegenheit auf eine bestimmte Form der Zeiterfassung („elektronisch“) für alle Arbeitnehmer hätte zur Folge, dass eine mit einem entsprechenden Regelungsauftrag ausgestattete Einigungsstelle nur über diese Form der Arbeitszeiterfassung im Betrieb befinden könnte. Da eine solche Art der Ausgestaltung unionsrechtlich jedoch nicht zwingend vorgegeben ist, bestünde die Gefahr, dass die Einigungsstelle ggf. keinen (umfassenden) inhaltlichen Spruch über die Ausgestaltung der den beiden Arbeitgeberinnen obliegenden Pflicht zur Verwendung eines Arbeitszeiterfassungssystems für alle Arbeitnehmer ihres Gemeinschaftsbetriebs treffen könnte. Damit könnte sie entgegen den Vorgaben des § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG die regelungspflichtige Angelegenheit nicht oder zumindest nicht abschließend ausgestalten“

 

Erste Bewertung

Der Volltext der Entscheidung des BAG bringt in mancher Hinsicht Klarheit, lässt aber auch einige Themen offen, zu denen man sich in der Praxis eine Aussage erhofft hat. Es gab für das BAG aber auch keine zwingende Veranlassung, sich dazu zu äußern.

 

Klar ist etwa, dass es eine Aufzeichnungspflicht gibt und dass die Zeiterfassung nicht nur vorzunehmen ist, wenn die Beschäftigten dies möchten. Insbesondere ist nunmehr auch geklärt, dass dem Betriebsrat – vorbehaltlich ggf. anderweitiger künftiger Regelungen durch den Gesetzgeber – für die Ausgestaltung des zwingend einzuführenden Zeiterfassungssystems nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG i.V.m. § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG ein Mitbestimmungsrecht inkl. Initiativrecht zusteht, auch wenn das Zeiterfassungssystem nicht elektronisch sein muss. Den Betriebsparteien hat das BAG dabei einen Gestaltungsspierlaum zuerkannt, bei dem diese auch die Besonderheiten der jeweils betroffenen Tätigkeitsbereiche der Arbeitnehmer und die Eigenheiten des Unternehmens – insbesondere seine Größe berücksichtigen können. Eine generelle Neuausrichtung der Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG nimmt das BAG auch nicht vor. Geklärt ist auch, dass die Aufzeichnung der betreffenden Zeiten als solche an die Arbeitnehmer delegiert werden darf. Somit ist – wie auch bereits überwiegend erwartet worden war – die Vertrauensarbeitszeit weiterhin möglich (wenn man sie denn so versteht, wie sie gemeint ist: Nur Verzicht auf Kontrolle, kein Wegfall der arbeitszeitlichen Verpflichtung an sich; siehe dazu etwa die Blogbeiträge EuGH verpflichtet Arbeitgeber, die tägliche Arbeitszeit ihrer Arbeitnehmer zu erfassen und Vertrauensarbeitszeit und Überstunden: BAG sieht Vergütungspflicht und lehnt pauschale Abgeltung ab). 

 

Offen ist hingegen etwa, ob das BAG daran festhält, dass es bei der Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG (technische Einrichtungen) kein Initiativrecht gibt. Offen ist auch noch, was konkret darunter zu verstehen ist, dass das Zeiterfassungssystem laut EuGH objektiv, verlässlich und zugänglich sein soll und ob sowie wann mit diesen Vorgaben eine Aufzeichnung in Papierform oder kraft (veränderbarer) Excel-Tabelle vereinbar ist. Offen ist schließlich, ob und ggf. wann sowie wie konkret der Gesetzgeber tätig und insbes. die auch europarechtlich möglichen Spielräume nutzen wird.  

 

Ebenfalls klar ist spätestens jetzt, dass Arbeitgeber ein entsprechendes Zeiterfassungssystem einführen bzw. ein vorhandenes System überprüfen müssen. Bei der Ausgestaltung hat ein vorhandener Betriebsrat mitzubestimmen.  

 

 

Im konkret vom BAG entschiedenen Fall dürfte trotz Unterliegens des Betriebsrats geklärt sein, dass ein Mitbestimmungsrecht (inkl. Initiativrecht) für die Ausgestaltung des Zeiterfassungssystems nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG i.V.m. § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG besteht, so dass das für die Durchführung der arbeitsgerichtlichen Klärung ausgesetzte Einigungsstellenverfahren ggf. fortgesetzt werden kann, wenn denn der Regelungsgegenstand entsprechend gefasst ist (wenn auch mit offenem Ergebnis).

DR. ARTUR KÜHNEL
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Partner
Tel.: +49 40 34 80 99 0
E-Mail: kuehnel@vahlekuehnelbecker.de

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