Von DR. ARTUR KÜHNEL, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Partner
Das Bundesarbeitsgericht hat heute eine für die Praxis bedeutsame, nahezu bahnbrechende Entscheidung getroffen. Es hat entschieden, dass Arbeitgeber aufgrund unionsrechtskonformer Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG gesetzlich verpflichtet sind, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen (BAG, Beschluss vom 13.9.2022, 1 ABR 21/22, Pressemitteilung 35/22).
Worum ging es (eigentlich) bisher?
Gestritten wurde seit einiger Zeit um die Frage, ob dem Betriebsrat bei der Einführung einer elektronischen Zeiterfassung im Rahmen seines Mitbestimmungsrechts nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG auch ein Initiativrecht zusteht, er also auch gegen den Willen des Arbeitgebers die Einführung einer elektronischen Zeiterfassung verlangen kann. Nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG besteht ein Mitbestimmungsrecht bei der Einführung und Anwendung von technischen Einrichtungen, die dazu bestimmt sind, das Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer zu überwachen.
Bisherige Rechtsprechung
In einer schon älteren Entscheidung hat das BAG die Frage verneint (BAG, Beschluss vom 28.11.1989 - 1 ABR 97/88, zu einer maschinellen Zeiterfassung; ebenso LAG Niedersachsen vom 22.10.2013, 1 TaBV 53/13, sowie für das Personalvertretungsrecht BVerwG, Beschluss vom 29.9.2004 - 6 P 4/04). Das BAG hat seinerzeit ausdrücklich festgestellt: "Das Initiativrecht des Betriebsrats hinsichtlich des Mitbestimmungstatbestandes nach § 87 I Nr. 6 BetrVG hat nicht zum Inhalt, dass der Betriebsrat auch die Einführung einer technischen Kontrolleinrichtung verlangen kann". Laut BAG kommt dem Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG des Betriebsrats "nur" eine Abwehrfunktion gegenüber der Einführung solcher technischer Kontrolleinrichtungen zu, deren Einführung als solche nicht verboten ist und deren Anwendung unter Berücksichtigung der Interessen der Arbeitnehmer auch sinnvoll und geboten sein kann.
Das LAG Hamm hat dem in einer jüngeren Entscheidung der Entscheidung des BAG aus 1989 ausdrücklich widersprochen (LAG Hamm, Beschluss vom 27.7.2021 - 7 TaBV 79/20): "Dem Betriebsrat steht bei der Einführung einer elektronischen Zeiterfassung ein Initiativrecht zu."
Im Rahmen von arbeitsgerichtlichen Verfahren zur Einsetzung einer Einigungsstelle haben sich das LAG München und das LAG Düsseldorf in jüngeren Entscheidungen auf den Standpunkt gestellt, dass die Frage, ob dem Betriebsrat ein Initiativrecht zur Einführung einer technischen Arbeitszeiterfassung zusteht, derzeit in Rechtsprechung und Literatur umstritten und die Rechtsprechung des BAG aus dem Jahr 1989 nicht als gefestigte gegenstehende Rechtsprechung bezeichnet werden. Somit sei es nicht ausgeschlossen, dass aus den betroffenen Mitbestimmungsrechten gem. § 87 Abs. 1 Nr. 6 und 7 BetrVG ein entsprechendes Initiativrecht des Betriebsrats abzuleiten ist. (LAG München, Beschluss vom 10.8.2021 – 3 TaBV 31/21; LAG Düsseldorf, Beschluss vom 24.8.2021 – 3 TaBV 29/21; ebenso bereits LAG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.1.2015 - 10 TaBV 1812/14 und 10 TaBV 2124/14; LAG Hamm, Beschluss vom 4.6.2019 - 7 TaBV 93/18 und vom 15.12.2020 -
7 TaBV 85/20). Anders als das LAG Hamm haben das LAG München und das LAG Düsseldorf es für möglich gehalten, dass das streitige Initiativrecht des Betriebsrats aus § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG herzuleiten sein könnte. Danach besteht ein Mitbestimmungsrecht bei Regelungen über die Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sowie über den Gesundheitsschutz im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften oder der Unfallverhütungsvorschriften. Es ist aber bisher ebenfalls umstritten, ob über dieses Mitbestimmungsrecht ein Initiativrecht des Betriebsrats herleitbar ist, wenn die Einführung einer technischen Kontrolleinrichtung z.B. zur Vermeidung einer „Selbstausbeutung“ im Rahmen sog. Vertrauensarbeitszeit für erforderlich gehalten wird (mit Blick auf das bekannte Arbeitszeit-Urteil des EuGH vom 14.5.2019 – C-55/18; vgl. etwa Fitting/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier/Schelz, 31. Aufl. 2022, § 87 BetrVG Rn. 257 f. m.w.N.).
Aktuelle Entscheidung des BAG vom 13. September 2022
Gegen den oben genannten Beschluss des LAG Hamm (vom 27.7.2021, 7 TaBV 79/20) hat die unterlegende Arbeitgeberin Rechtsbeschwerde eingelegt. Das BAG hat die Entscheidung des LAG Hamm aufgehoben und der Arbeitgeberin Recht gegeben. Das BAG lehnt ein Initiativrecht des Betriebsrats bei der Einführung einer elektronischen Zeiterfassung ab. Ausweislich der bisher nur vorliegenden Pressemitteilung hat das BAG dies aber gänzlich anders als bisher begründet:
"Der Betriebsrat hat nach § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG in sozialen Angelegenheiten nur mitzubestimmen, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht. Bei unionsrechtskonformer Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG ist der Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen. Dies schließt ein – ggfs. mithilfe der Einigungsstelle durchsetzbares – Initiativrecht des Betriebsrats zur Einführung eines Systems der Arbeitszeiterfassung aus."
§ 3 ArbSchG lautet auszugsweise:
"(1) Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen. Er hat die Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen und erforderlichenfalls sich ändernden Gegebenheiten anzupassen. ...
(2) Zur Planung und Durchführung der Maßnahmen nach Absatz 1 hat der Arbeitgeber unter Berücksichtigung der Art der Tätigkeiten und der Zahl der Beschäftigten
1. für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen ..."
Im Ergebnis hat die Arbeitgeberin zwar das konkrete Verfahren gegen den Betriebsrat gewonnen. Jedoch hat das BAG zugleich ausdrücklich festgestellt, dass Arbeitgeber bereits gesetzlich verpflichtet sind, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen. Das BAG begründet dies mit der europarechtskonfromen Auslegung des § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG, was eine offensichtliche Bezugnahme auf das bekannte Arbeitszeit-Urteil des EuGH vom 14.5.2019 – C-55/18 ist. Damit hat das BAG den zahlreichen, teilweise recht selbstsicher auftretenden Stimmen, eine Abfuhr erteilt, die fest davon ausgegangen sind, dass das Urteil des EuGH durch den Gesetzgeber umgesetzt werden müsste, aber eine europarechtskonforme Auslegung nicht möglich sei (vgl. dazu bereits den Beitrag Zeiterfassung à la EuGH: "erst in Zukunft" vs. "schon jetzt", zugegebenermaßen haben sich die meisten dabei auf § 16 Abs. 2 ArbZG fokussiert).
Bewertung
Für Arbeitgeber, für die eine (elektronische) Zeiterfassung ohnehin bereits zum betrieblichen Alltag gehört, ist die Entscheidung des BAG von eher geringem Interesse. Die Entscheidung ist für manch andere Arbeitgeber, die sie auch mit einer gewissen Anspannung entgegengesehen haben, jedoch unerfreulich. Dies gilt insbesondere, soweit solche Arbeitgeber eine Vertrauensarbeitszeit praktizieren, die auch schon bisherigen Vorgaben nicht unbedingt gerecht wird (siehe dazu den Beitrag Vertrauensarbeitszeit und Überstunden: BAG sieht Vergütungspflicht und lehnt pauschale Abgeltung ab). Für Betriebsräte und Arbeitnehmer ist die Entscheidung des BAG, auch wenn der am Verfahren beteiligte Betriebsrat unterlegen ist, eindeutig eine Verbesserung ihrer Rechtsposition bei der Zeiterfassung, die sich auch über das Arbeitsschutzrecht hinaus auswirken wird (vgl. dazu den Beitrag Auswirkungen der Zeiterfassung à la EuGH auf Vergütungsfragen?). Nur soweit auf Betriebsratsseite die Hoffnung bestanden haben sollte, dass die Zeiterfassung auch elektronisch verlangt werden kann, ist dem nicht der Fall. Auch der EuGH hat bekanntlich keine bestimmte Form der Zeiterfassung vorgegeben. Zudem dürfte das BAG auch einigen Bestrebungen auf Betriebsratsseite einen Riegel vorgeschoben haben, die sich ein allgemeines Initiativrecht zur Einführung aller möglichen technischen Einrichtungen vorgestellt haben.
Arbeitgeber müssen sich nunmehr direkt auf die "neue" Rechtslage einstellen. Die Pflicht zur Zeiterfassung gilt bereits jetzt. Sie müssen auch befürchten, dass sie bei diesem Thema auch vom Betriebsrat aufgefordert werden, ihn im Rahmen der Ausgestaltung der Zeiterfassung nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG mitbestimmen zu lassen. Dazu kann sehr wohl auch das "Wie" der Zeiterfassung und damit die Frage nach der elektronischen Zeiterfassung gehören. Das BAG hat bereits zum Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG zu Beginn und Ende der Arbeitszeit Folgendes festgestellt: "Die Einigungsstelle war für die Festlegung, ob und auf welche Weise die täglichen Arbeitszeiten der Arbeitnehmer erfasst werden, zuständig. Die dafür erforderliche Regelungskompetenz folgt aus § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG. Wird die tägliche Arbeitszeit durch eine technische Kontrolleinrichtung aufgezeichnet, ist das Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG einschlägig, wenn die maschinelle Arbeitszeiterfassung dazu bestimmt ist, das Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer zu überwachen." Legt man dies zugrunde, besteht, nachdem die Zeiterfassung selbst bereits von Gesetzes wegen verpflichtend ist, das "Wie" aber nicht vorgegeben ist, für die Ausgestaltung und damit auch die Form der Zeiterfassung ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats. Im Ergebnis kann der Betriebsrat damit ggf. sehr wohl zumindest die Forderung nach einer elektronischen Zeiterfassung aufstellen. Es bleibt mit Spannung abzuwarten, ob und welche weiteren Hinweise der erst später veröffentlichte Volltext der Entscheidung des BAG zu diesen und ggf. weiteren Fragen geben wird.
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Partner
E-Mail: kuehnel@vahlekuehnelbecker.de
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