Erschütterter Beweiswert der unter Verstoß gegen Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung?

Von DR. ARTUR KÜHNEL, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Partner

Einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt bekanntlich ein hoher Beweiswert zu, der aber erschüttert werden kann. Anders als früher zeigt sich die Rechtsprechung zuletzt etwas „offener“ für die Annahme einer Erschütterung des Beweiswertes. Der vorliegende Beitrag stellt eine weitere Entscheidung des BAG dazu vor und ordnet sie ein. Darin hatte das BAG zu beurteilen, ob und ggf. wann der Beweiswert einer unter Verstoß gegen die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert ist.

 

Anm.: Dieser Blogbeitrag ist in leicht abgewandelter Form auch als Beitrag im Expertenforum Arbeitsrecht (#EFAR) erschienen: Keine Entgeltfortzahlung bei mehr als sieben Tagen Fieber? Folgen einer falsch ausgestellten AU-Bescheinigung 


Thema

Nach allgemeinen Grundsätzen trägt der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast für die Voraussetzungen des Anspruchs auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall gemäß § 3 EFZG. Der Beweis der Arbeitsunfähigkeit wird in der Regel durch die Übermittlung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung geführt (§ 5 Abs. 1 S. 2 EFZG bzw. § 5 Abs. 1a S. 2 EFZG). Die ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist hierzu das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweismittel (vgl. auch § 7 Abs. 1 Nr. 1 EFZG). Ihr kommt daher ein hoher Beweiswert zu. Jedoch kann der Arbeitgeber den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlegt und notfalls beweist, die Zweifel an der Erkrankung ergeben. Dies hat zur Folge, dass der Bescheinigung dann kein Beweiswert mehr zukommt.

 

Ist der Beweiswert erschüttert, so tritt hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast wieder derselbe Zustand ein, wie er vor Vorlage/Übermittlung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bestand. Es ist dann Sache des Arbeitnehmers, konkrete Tatsachen darzulegen und im Bestreitensfall zu beweisen, die den Schluss auf eine bestehende Erkrankung zulassen (vgl. BAG, Urteil vom 08.09.2021, 5 AZR 149/21). Hierzu ist substanziierter Vortrag z.B. dazu erforderlich, welche Krankheiten vorgelegen haben, welche gesundheitlichen Einschränkungen bestanden haben und welche Verhaltensmaßregeln oder Medikamente ärztlich verordnet wurden. Er muss also zumindest laienhaft bezogen auf den gesamten Entgeltfortzahlungszeitraum schildern, welche konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit welchen Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit bestanden haben. Soweit er sich dazu auf das Zeugnis der behandelnden Ärzte beruft, muss er zudem die Ärzte von ihrer Schweigepflicht entbinden.

 

Tendenz: Erschütterung des Beweiswertes etwas leichter möglich

Im Vergleich zu früher ist für Arbeitgeber aufgrund der Rechtsprechung in den letzten Jahren – etwas – leichter geworden, sich auf eine Erschütterung des Beweiswertes zu berufen. Dies führt auch zu häufigeren arbeitgeberseitigen Versuchen, sich auf eine solche Erschütterung zu berufen. Diese Rechtsprechungsentwicklung wurde etwa bereits im Beitrag Entgeltfortzahlung nur bei Angaben zur Krankheit? – Teil 1: erschütterter Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorgestellt.

 

In diese Entwicklung reiht sich eine Entscheidung des BAG aus dem abgelaufenen Jahr 2023 ein (BAG, Urteil vom 28.06.2023, 5 AZR 335/22). In der Entscheidung hat das BAG die Annahme der Vorinstanzen, die eine Erschütterung des Beweiswertes verneint und den Anspruch des Arbeitnehmers auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall bestätigt haben, nicht beanstandet.

 

Verstöße gegen „bestimmte“ Vorgaben der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie potentiell relevant

Ausweislich dieser Entscheidung des BAG vom 28.06.2023 kann der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung – nach den Umständen des Einzelfalls – auch wegen Verstößen des ausstellenden Arztes gegen bestimmte (wenn auch nicht alle) Vorgaben der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (vgl. § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 7 SGB V) erschüttert sein.

 

Zwar entfaltet die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie keine unmittelbare Wirkung für Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Dies gilt auch für einen Arzt, der kein Vertragsarzt ist oder als Privatarzt gegenüber nicht gesetzlich versicherten Arbeitnehmern tätig wird; auch Versicherte der Krankenkassen können einen solchen Arzt – auf eigene Kosten – frei wählen und müssen sich nicht an einen Vertragsarzt wenden.

 

Und soweit die Bestimmungen der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie nur formale Vorgaben, die in erster Linie kassenrechtliche Bedeutung haben und das Verhältnis zwischen Vertragsarzt und Krankenkasse betreffen, beinhalten, sind sie für die Prüfung, ob der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert wurde, auch nicht relevant.

 

Relevant für die Prüfung, ob der Beweiswert erschüttert wurde, sind aber Bestimmungen der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie in § 4 und § 5, die sich auf medizinische Erkenntnisse zur sicheren Feststellbarkeit der Arbeitsunfähigkeit beziehen. Hierzu gehören beispielsweise die Bestimmungen zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit aufgrund persönlicher ärztlicher Untersuchung und zur Dauer der zu bescheinigenden Arbeitsunfähigkeit. Solche Bestimmungen enthalten nämlich eine Zusammenfassung allgemeiner medizinischer Erfahrungsregeln und Grundregeln zur validen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit. Sie bilden den allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse ab. Das BAG verweist insoweit auch auf die Rechtsprechung des BSG zum Krankengeldbezug (vgl. etwa BSG, Urteil vom 29.10.2020, B 3 KR 6/20 R), wonach die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung die „Bedeutung einer gutachterlichen Stellungnahme“ hat.

 

Ausgehend hiervon kann laut BAG beispielsweise ein Verstoß gegen die Regelungen in § 5 Abs. 1 Satz 5 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (in der aktuellen Fassung, entspricht in früheren Fassungen § 5 Abs. 1 Satz 4) grundsätzlich zu einer Erschütterung des Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung führen. Dieser Satz lautet: „Symptome (z. B. Fieber, Übelkeit) sind nach spätestens sieben Tagen durch eine Diagnose oder Verdachtsdiagnose auszutauschen.“ Laut BAG ist grundsätzlich davon auszugehen, dass ein Verstoß hiergegen den Beweiswert einer für zwei Wochen ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auf der Basis von bloßen (!) Symptomen erschüttern kann. Ein solcher Verstoß hätte auch Auswirkungen auf die gesamte Bescheinigung. Er würde somit nicht erst nach Ablauf des „zulässigen“ Zeitraums von sieben Tagen eingreifen.

 

Diagnosen/Symptome/ICD-10-Codes in der Regel unbekannt, aber bei Kenntnis verwertbar

Diese vom BAG aufgestellten Grundsätze helfen dem Arbeitgeber aber regelmäßig nicht, da er die der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zugrunde liegenden ärztlichen Erwägungen nicht kennt. Er weiß etwa nicht, ob der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eine Diagnose oder bloße Symptome zugrunde liegen. Die für den Arbeitgeber vorgesehene Durchschrift der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hat keine Angaben zur Ursache und Art der Arbeitsunfähigkeit und der zugrundeliegenden Erkrankung zu enthalten.

 

Relevant wird dies typischerweise also erst dann, wenn solche weiteren Umstände bekannt werden, also wenn – wie im vom BAG entschiedenen Fall – ein Arbeitnehmer – ohne dazu vom Gericht oder der Gegenseite aufgefordert zu sein – freiwillig zu den zugrundeliegenden Diagnosen bzw. ICD-10-Codes erklärt und sie selbst ins Verfahren einführt. In so einem Fall kann sich der Arbeitgeber laut BAG auch auf diese Informationen für eine eventuelle Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung stützen.

 

Laut BAG kann ein Verstoß gegen die Vorgabe in § 5 Abs. 1 Satz 4 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie, Symptome wie Fieber oder Übelkeit nach spätestens sieben Tagen durch eine Diagnose oder Verdachtsdiagnose auszutauschen – je nach den im Einzelfall vom Arzt angegebenen ICD-10-Codes – in Zusammenschau mit der Dauer der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit Zweifel an der Richtigkeit der Bescheinigung aufwerfen. Dies gilt, auch wenn die Kodierung nach ICD-10 primär das Abrechnungsrecht und damit zunächst das Verhältnis zwischen Vertragsärzten und Kassen betrifft.

 

Konkret stellt sich das BAG in diesem Zusammenhang auch deutlich gegen die Auffassung, dass der ärztlichen Sachkunde eine ausschlaggebende Bedeutung nur zukommen können soll, wenn die ärztliche Bescheinigung auf einem festgestellten objektiven Befund beruhe. Laut BAG entspräche es weder der Lebenserfahrung noch den normativen Vorgaben des Entgeltfortzahlungsgesetzes, jeder ärztlichen Beurteilung „eines vom Patienten (subjektiv) geschilderten Gesundheitszustandes“ ein Beweiswert abzusprechen.

 

Fazit und Einordnung

Das BAG hat der Rechtsprechung zur Erschütterung des Beweiswertes eine weitere nunmehr höchstrichterlich entschiedene Fallkonstellation hinzugefügt, wonach Verstöße gegen bestimmte Vorgaben der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert können.

 

Da Arbeitgebern aber regelmäßig unbekannt ist, ob der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eine Diagnose oder bloße Symptome zugrunde liegen, sind hierauf abstellende Vorgaben der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie wie etwa die vom BAG ausdrücklich behandelte Bestimmung in § 5 Abs. 1 Satz 4 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie, wonach Symptome wie Fieber oder Übelkeit nach spätestens sieben Tagen durch eine Diagnose oder Verdachtsdiagnose auszutauschen sind, nur in besonderen Fällen geeignet, eine Erschütterung des Beweiswertes zu begründen.

 

Andere relevante Vorgaben der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie sind z.B.:

  • Feststellung der Arbeitsunfähigkeit nur auf Grund einer ärztlichen Untersuchung (§ 4 Abs. 5 und 5a der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie)
    • unmittelbar persönliche Untersuchung
    • mittelbar persönliche Untersuchung im Rahmen einer Videosprechstunde, die nur erfolgen kann, wenn die Erkrankung dies nicht ausschließt
      • erstmalige Feststellung der Arbeitsunfähigkeit für nicht unmittelbar persönlich bekannte Versicherte „soll“ nicht über Zeitraum von bis zu drei Kalendertagen hinausgehen
      • erstmalige Feststellung der Arbeitsunfähigkeit für unmittelbar persönlich bekannte Versicherte kann für Zeitraum von bis zu sieben Kalendertagen erfolgen
      • Feststellung des Fortbestehens der Arbeitsunfähigkeit „soll“ nur erfolgen, wenn bei der oder dem Versicherten bereits zuvor aufgrund unmittelbar persönlicher Untersuchung Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit festgestellt worden ist
      • sofern hinreichend sichere Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit nicht möglich ist, ist hiervon im Rahmen der Videosprechstunde abzusehen und auf Erforderlichkeit einer unmittelbar persönlichen Untersuchung zu verweisen.
      • Authentifizierung der oder des Versicherten ist sicherzustellen
    • mittelbar persönliche Untersuchung nach telefonischer Anamnese, sofern die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit im Rahmen einer Videosprechstunde nicht möglich ist und nur bei Erkrankungen, die keine schwere Symptomatik vorweisen
      • hat entsprechend der Vorgaben zur Videosprechstunde zu erfolgen
      • erstmalige Feststellung der Arbeitsunfähigkeit „soll“ über einen Zeitraum von bis zu fünf Kalendertagen nicht hinausgehen
  • Arbeitsunfähigkeit „soll“ grundsätzlich nicht rückwirkend bescheinigt werden (§ 5 Abs. 3 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie)
    • Rückdatierung des Beginns der Arbeitsunfähigkeit auf einen vor dem Behandlungsbeginn liegenden Tag ist ebenso wie eine rückwirkende Bescheinigung über das Fortbestehen der Arbeitsunfähigkeit nur ausnahmsweise und nur nach gewissenhafter Prüfung und in der Regel nur bis zu drei Tagen zulässig
  • voraussichtliche Dauer der Arbeitsunfähigkeit „soll“ nicht für mehr als zwei Wochen im Voraus bescheinigt werden (§ 5 Abs. 4 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie)
    • Bescheinigung bis zur voraussichtlichen Dauer von einem Monat möglich, wenn dies auf Grund der Erkrankung oder eines besonderen Krankheitsverlaufs sachgerecht ist

Wichtig ist auch, dass bei der Prüfung, ob der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert ist, laut BAG eine Gesamtbetrachtung der Umstände des Falls vorzunehmen ist. Dabei ist auch weiterer (ggf. freiwilliger) Vortrag des Arbeitnehmers auch zu medizinischen Behandlungen und ärztlich angeordneten Untersuchungen zu berücksichtigen. Einzelne Umstände, wie etwa eben auch Verstöße gegen relevante Bestimmungen der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie, können also nicht isoliert für sich betrachtet werden.

 

 

Und was gilt für in Videosprechstunde oder telefonisch erfolgte Krankschreibungen? 

Soweit diskutiert wird, ob der hohe Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auch dann besteht, wenn diese nicht auf Grundlage einer unmittelbar persönlichen Untersuchung, sondern im Rahmen einer Videosprechstunde oder nach telefonischer Anamnese ausgestellt wird, äußert sich das BAG in der behandelten Entscheidung hierzu nicht ausdrücklich.

 

Teilweise wird insoweit die Ansicht vertreten, dass hier ein (vergleichbar hoher) Beweiswert (insbes. aufgrund der Manipulationsmöglichkeiten) nicht gegeben ist.

 

Jedoch lässt die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie eine Bescheinigung auch im Rahmen einer Videosprechstunde oder nach telefonischer Anamnese – jedenfalls unter gewissen Voraussetzungen – (zumindest derzeit) ausdrücklich zu. Und das BAG hat die entsprechenden Bestimmungen der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie als eine Zusammenfassung allgemeiner medizinischer Erfahrungsregeln und Grundregeln zur validen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit bezeichnet, die den allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse bilden. Das BAG hat auch die – theoretisch durchaus bestehende – Gelegenheit nicht genutzt, dies für im Rahmen einer Videosprechstunde oder nach telefonischer Anamnese ausgestellte Bescheinigungen einzuschränken.

 

Somit kann man den auf dieser Grundlage ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen den Beweiswert nicht pauschal absprechen. Vielmehr wird es auch insoweit darauf ankommen, ob die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit im Rahmen einer Videosprechstunde oder nach telefonischer Anamnese unter Einhaltung der dazu in der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie enthaltenen Vorgaben erfolgt ist (was dem Arbeitgeber auch in diesen Fällen häufig unbekannt sein wird). 

DR. ARTUR KÜHNEL
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Partner
Tel.: +49 40 34 80 99 0
E-Mail: kuehnel@vahlekuehnelbecker.de

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