BAG fragt EuGH: Muss in angeordnete Quarantäne fallender Urlaub nachgewährt werden?

Von DR. ARTUR KÜHNEL, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Partner

In der jüngsten Vergangenheit wurde vermehrt diskutiert, welche Auswirkungen nachgewiesene Zeiten einer angeordneten Quarantäne  (ohne zugleich vorliegende Erkrankung) auf den in dieser Zeit gewährten Jahresurlaub haben. Konkret: Muss der in solche Zeiten fallende Urlaub - in Anlehnung an die Regelung in § 9 BUrlG bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit - nachgewährt werden? Es gibt bereits mehrere Entscheidungen von Landesarbeitsgerichten zu dieser Frage. Das BAG hat sich am heutigen Tag hiermit befasst. Es hält dazu eine Entscheidung des EuGH für nötig (BAG, Urteil vom 16.08.2022, 9 AZR 76/22, Pressemitteilung 30/22). Auf Rechtssicherheit in dieser Frage muss die Praxis also noch warten.


Der Fall (laut Pressemitteilung des BAG)

Die Parteien streiten über die Gutschrift von Urlaubstagen für das Jahr 2020.

 

Der Kläger ist seit 1993 bei der Beklagten als Schlosser beschäftigt. Auf seinen Antrag bewilligte ihm die Beklagte acht Tage Erholungsurlaub für die Zeit vom 12. bis zum 21.10.2020. Mit Bescheid vom 14.10.2020 ordnete die Stadt Hagen die Absonderung des Klägers in häusliche Quarantäne für die Zeit vom 9. bis zum 21.10.2020 an, weil er zu einer mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 infizierten Person Kontakt hatte. Für die Zeit der Quarantäne war es dem Kläger untersagt, seine Wohnung ohne ausdrückliche Zustimmung des Gesundheitsamts zu verlassen und Besuch von haushaltsfremden Personen zu empfangen. Die Beklagte belastete das Urlaubskonto des Klägers mit acht Tagen und zahlte ihm das Urlaubsentgelt.

 

Der Kläger hat die auf Wiedergutschrift der Urlaubstage auf seinem Urlaubskonto gerichtete Klage darauf gestützt, es sei ihm nicht möglich gewesen, seinen Urlaub selbstbestimmt zu gestalten. Die Situation bei einer Quarantäneanordnung sei der infolge einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit vergleichbar. Der Arbeitgeber müsse ihm deshalb entsprechend § 9 BUrlG, dem zufolge ärztlich attestierte Krankheitszeiten während des Urlaubs nicht auf den Jahresurlaub angerechnet werden dürfen, nachgewähren.

 

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben (LAG Hamm, Urteil vom 27.01.2022 – 5 Sa 1030/21). Dagegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Revision.

 

Entscheidung des BAG

Das BAG hat die Frage heute nicht abschließend entschieden, sondern dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt. Konkret fragt das BAG den EuGH,

 

ob Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie (2003/88/EG ) und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahingehend auszulegen sind, dass sie einer innerstaatlichen Regelung oder Praxis entgegenstehen, der zufolge ein vom Arbeitnehmer beantragter und vom Arbeitgeber bewilligter bezahlter Jahresurlaub, der sich mit einer nach Urlaubsbewilligung durch die zuständige Behörde wegen Ansteckungsverdachts angeordneten häuslichen Quarantäne zeitlich überschneidet, nicht nachzugewähren ist, wobei beim Arbeitnehmer während der Quarantäne keine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit besteht. 

 

Bewertung und Beraterhinweis 

Mehr als die Aussage, dass Vorstehendes für das BAG entscheidungserheblich ist, ist der bislang lediglich vorliegenden Pressemitteilung nicht zu entnehmen. Zumindest Anhaltspunkte dafür, welche Erwägungen das BAG hierzu angestellt hat, können dem Urteil des LAG Hamm in Vorinstanz entnommen werden. U.a. hat das LAG Hamm hierzu unter Hinweis auf Entscheidungen des EuGH folgende Aussagen getroffen:

  • Im Fall einer angeordneten Quarantäne ist eine Vergleichbarkeit mit der Situation eines arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmers gegeben.
  • Der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub soll es dem Arbeitnehmer ermöglichen, sich zu erholen und über einen Zeitraum für Entspannung und Freizeit zu verfügen.
  • Eine Quarantäne-Anordnung steht immer einem wesentlichen Aspekt der Urlaubsgewährung entgegen, die darin besteht, die Urlaubsgestaltung frei zu bestimmen bzw. selbstbestimmt zu gestalten.
  • Zwar schuldet der Arbeitgeber tatsächlich keinen „Urlaubserfolg“. Der Arbeitnehmer soll aber nach § 1 BUrlG zur Erfüllung des Urlaubsanspruchs von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung freigestellt werden, um ihm die uneingeschränkte Möglichkeit selbstbestimmter Nutzung seiner Freizeit zu geben. Die Quarantäne-Bestimmungen verhindern dieses abstrakt gesehen aber generell.

Die im noch nicht vorliegenden Beschluss des BAG zu erwartenden konkreten Ausführungen hierzu dürften mit Spannung erwartet werden.

 

Erwähnenswert ist insoweit noch, dass mehrere Landesarbeitsgerichte dies anders als das LAG Hamm gesehen haben (vgl. LAG Düsseldorf, Urteil vom 15.10.2021 – 7 Sa 857/21; LAG Köln, Urteil vom 13.12.2021 – 2 Sa 488/21; LAG Schleswig-Holstein, Urteil vom 15.02.2022 – 1 Sa 208/21; LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 16.2.2022 – 10 Sa 62/21; LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 07.04.2022 – 2 Sa 341/21).

DR. ARTUR KÜHNEL
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Partner
Tel.: +49 40 34 80 99 0
E-Mail: kuehnel@vahlekuehnelbecker.de

Kommentar schreiben

Kommentare: 0