Zeiterfassung à la EuGH: "erst in Zukunft" vs. "schon jetzt"

Von DR. ARTUR KÜHNEL, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Partner

Der EuGH hat bereits im Jahr 2019 festgestellt, dass Arbeitgeber verpflichtet werden müssen, ein objektive, verlässliche und zugängliche Zeiterfassung einzuführen, mit der die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. Das Jahr 2021 neigt sich dem Ende zu und nach wie vor stellt sich die Frage, ob die Vorgaben des EuGH schon jetzt gelten oder aber vom Gesetzgeber erst noch umgesetzt werden müssen. Dies gilt umso mehr, der Gesetzgeber zuletzt keine Anstalten macht, insoweit tätig zu werden.


Rückblick: EuGH zur Einführung der Zeiterfassung

Ausweislich des hinlänglich bekannten Urteils des EuGH vom 14. Mai 2019 (C-55/18) müssen die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber verpflichten, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann (Pflicht zur Zeiterfassung). Insoweit hat der EuGH festgestellt, dass ohne ein solches System weder die Zahl der vom Arbeitnehmer tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden sowie ihre zeitliche Lage noch die über die gewöhnliche Arbeitszeit hinausgehende, als Überstunden geleistete Arbeitszeit objektiv und verlässlich ermittelt werden kann. Dies aber sei zwingend erforderlich.

 

Das Urteil des EuGH hat das Arbeitszeitschutzrecht inhaltlich nicht geändert. Der EuGH hat aber eine Pflicht zur Transparenz geschaffen (durch verlässliche Feststellung der relevanten Tatsachen), die zu einer besseren Kontrolle und Einhaltung der inhaltlichen Vorgaben des Arbeitszeitschutzrecht führen soll. Soweit vereinzelt vertreten wird, dass die Arbeitszeiten danach zwar gemessen, aber nicht notwendigerweise dokumentiert (also aufgezeichnet) werden müssten, ist dies mit den Vorgaben des EuGH und auch mit den damit verfolgten Zielen offensichtlich nicht zu vereinbaren. Das Urteil des EuGH wurde bereits vielerorts umfänglich besprochen, was an dieser Stelle nicht noch einmal erfolgen soll. 

  

"Umsetzung durch nationalen Gesetzgeber nötig" vs. "unionsrechtskonforme Auslegung schon jetzt" 

Der deutsche Gesetzgeber hat die Vorgaben des EuGH bisher nicht umgesetzt, obwohl dies zwischenzeitlich angekündigt worden war. Der Presse zuletzt entnehmbare Äußerungen zweier Bundesministerien wiesen im Gegenteil darauf hin, dass man hier keinen Handlungsbedarf sehe (Tagesspiegel, 10.6.2021: "Neue Regeln zur Arbeitszeiterfassung umstritten") . So wurde das Bundesarbeitsministerium mit der (recht irritierenden) Aussage zitiert, dass die Entscheidung des EuGH sich auf die spanische Rechtslage beziehe und eine unmittelbare Pflicht zur Umsetzung des Urteils daher nur für Spanien bestehe. Immerhin wurde noch die weitere Aussage nachgeschoben, dass zum weiteren Vorgehen in der Bundesregierung noch keine politischen Entscheidungen getroffen worden seien und es deshalb es auch noch keinen Zeitplan dazu gebe (was die erste Aussage dann etwas relativiert). Das Bundeswirtschaftsministerium hingegen sehe kein zwingendes Umsetzungserfordernis, da das deutsche Recht nach derzeitiger Rechtslage bereits umfassende Dokumentationspflichten des Arbeitgebers zur Arbeitszeit vorsehen würde. Und soweit bisher bekannt, ist die Umsetzung des Urteils des EuGH zur Zeiterfassung auch nicht Thema der Sondierungen der künftigen sog. Ampel-Koalition.

 

Nach jdf. ganz überwiegender Ansicht erfüllt das bisherige deutsche Arbeitszeitschutzrecht die Vorgaben aus dem Urteil des EuGH aus dem Jahr 2019 nicht. Dies gilt insbesondere für die (einzige, fast alle Beschäftigten erfassende) Regelung in § 16 Abs. 1 S. 1 ArbZG. Diese lautet: "Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die über die werktägliche Arbeitszeit des § 3 Satz 1 hinausgehende Arbeitszeit der Arbeitnehmer aufzuzeichnen ...". § 3 S. 1 ArbZG gibt vor, dass die werktägliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer acht Stunden nicht überschreiten darf. Überwiegend wird insoweit vertreten, dass der Arbeitgeber nur die 8 Stunden überschreitende Arbeitszeit an Werktagen und jede Arbeitszeit an Sonn- und Feiertagen aufzeichnen muss (vgl. etwa LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 5.6.2013 - 8 Sa 571/12; VGH, Beschluss vom 26.10.2011 - 22 CS 11.1989).

 

Nachdem der Gesetzgeber zuletzt keine Anstalten macht, tätig zu werden und die Vorgaben des EuGH umzusetzen, stellt sich die weiterhin die umstrittene Frage, ob es hins. der Vorgaben des EuGH einer Umsetzung des nationalen Gesetzgebers bedarf oder aber ob die Vorgaben bereits unmittelbare Geltung haben und ggf. warum:

  • Die - soweit ersichtlich - überwiegende Ansicht lehnt eine unmittelbare Geltung ab und geht davon aus, dass erst der Gesetzgeber tätig werden muss (vgl. u.a. LAG Niedersachsen vom 6.5.2021, 5 Sa 1292/20). Im Wesentlichen wird dies damit begründet, dass sich die GrCh nur an Mitgliedsstaaten wende und eine unionsrechtskonforme Auslegung des deutschen Rechts (§ 16 Abs. 2 ArbZG) vorliegend wegen seines eindeutigen Wortlauts und wegen der dem Gesetzgeber vom EuGH eingeräumter Umsetzungsspielräume nicht möglich sei.
  • Nach anderer Ansicht gelten die Vorgaben des EuGH bereits jetzt unmittelbar und ohne dass der Gesetzgeber tätig werden muss (siehe u.a. ArbG Emden vom 20.2.2020, 2 Ca 94/19 sowie vom 24.9.2020, 2 Ca 144/20). Dies wird vor allem mit einer unionsrechtskonformen Auslegung des § 16 Abs. 2 ArbZG unter Hinweis auf die unmittelbare Geltung von Art. 31 Abs. 2 GrCh begründet.

"Spielregeln" unionsrechtskonformer Auslegung

Der vorstehende Streit soll und kann an dieser Stellt nicht entschieden werden. Jedoch soll hier die Frage näher betrachtet werden, nach welchen Regeln denn eine solche unionsrechtskonforme Auslegung zu erfolgen hat:

 

Der EuGH hat sich zur Begründung der "Pflicht zur Zeiterfassung" auf Art. 31 Abs. 2 EU-Grundrechte-Charta (GRCh) sowie auf Bestimmungen der Arbeitszeit-Richtlinie 2003/88/EG sowie ergänzend auch auf Vorschriften der Rahmen-Richtlinie zum Arbeitsschutz 89/391/EWG gestützt. Anders als Art. 31 Abs. 2 GRCh sind Richtlinien bekanntlich kein in den Mitgliedstaaten unmittelbar geltendes Recht. Vielmehr bedarf es dazu „in der Regel“ Umsetzungsakte der Mitgliedstaaten. Die Wendung „in der Regel“ ist (jdf. aus Sicht von Juristen) ein (deutlicher) Hinweis darauf, dass es Ausnahmen zur Regel gibt. Konkret heißt das, dass eine Geltung von Richtlinien auch ohne Umsetzung in folgenden Fällen in Frage kommt:

  • nationales Recht muss laut ständiger EuGH-Rechtsprechung anhand der Richtlinien möglichst unionsrechtskonform ausgelegt werden
  • wenn eine unionsrechtskonforme Auslegung nicht möglich ist, gilt die EU-Richtlinie für öffentliche Arbeitgeber dennoch bereits unmittelbar und zwingend
  • wenn eine unionsrechtskonforme Auslegung nicht möglich ist, aber die Richtlinie auch der Umsetzung von Rechten aus GRCh dient (wie hier Art. 31 Abs. 2 der GrCh), muss entgegenstehendes nationales Recht von den nationalen Gerichten erforderlichenfalls unangewendet gelassen werden – und zwar auch hins. privater Arbeitgeber

Insoweit hat der EuGH bereits mehrfach ausgeführt, dass Art. 31 Abs. 2 der GrCh schon für sich allein den Arbeitnehmern ein Recht verleiht, das sie in einem Rechtsstreit gegen ihren Arbeitgeber in einem vom Unionsrecht erfassten und daher in den Anwendungsbereich der Charta fallenden Sachverhalt als solches geltend machen können (vgl. etwa EuGH vom 6.11.2018, C-569/16, C-570/16). Und auch im Urteil aus 2019 hat der EuGH unter Hinweis hierauf betont, dass die mit der Auslegung des nationalen Rechts betrauten nationalen Gerichte bei dessen Anwendung sämtliche nationalen Rechtsnormen berücksichtigen und die im nationalen Recht anerkannten Auslegungsmethoden anwenden müssen, um seine Auslegung so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck der fraglichen Richtlinie auszurichten, damit das von ihr festgelegte Ergebnis erreicht wird. Ferner führt der EuGH dort aus: Das Erfordernis einer unionsrechtskonformen Auslegung umfasst die Verpflichtung der nationalen Gerichte, eine gefestigte Rechtsprechung gegebenenfalls abzuändern, wenn sie auf einer Auslegung des nationalen Rechts beruht, die mit den Zielen einer Richtlinie unvereinbar ist.

 

Die vorstehenden Vorgaben geben die europarechtliche Seite der unionsrechtskonformen Auslegung wieder. Daneben muss aber auch die nationale Ebene betrachtet werden: Insoweit sind die folgenden Aussagen des Bundesverfassungsgerichts zur richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts von Interesse (BVerfG vom 26.9.2011, 2 BvR 2216/06):

  • Die unionsrechtliche Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts findet ihre Grenzen an dem nach innerstaatlicher Rechtstradition methodisch Erlaubten.
  • Ob und inwieweit das innerstaatliche Recht eine richtlinienkonforme Auslegung zulässt, können nur innerstaatliche Gerichte in den Grenzen des Verfassungsrechts beurteilen.
  • Eine verfassungsrechtlich unzulässige richterliche Rechtsfortbildung ist dadurch gekennzeichnet, dass sie, ausgehend von einer teleologischen Interpretation (d.h. nach Sinn und Zweck), den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, ihren Widerhall nicht im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder – bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke – stillschweigend gebilligt wird.
  • Eine bestimmte Auslegungsmethode oder gar eine reine Wortinterpretation schreibt die Verfassung nicht vor. Der Wortlaut des Gesetzes zieht im Regelfall keine starre Auslegungsgrenze.

Legt man dies zugrunde, ist es jdf. vertretbar anzunehmen, dass § 16 Abs. 2 ArbZG unionsrechtskonform ausgelegt werden kann (dann käme es auch nicht mehr auf die Frage an, ob deutsche Gerichte aufgrund des Art. 31 Abs. 2 der GrCh bei der Anwendung des § 16 Abs. 2 ArbZG die den Vorgaben des EuGH zur Zeiterfassung entgegenstehenden Normbestandteile zumindest unangewendet zu lassen hätten):

  • Da der Wortlaut laut Bundesverfassungsgericht keine starre Grenze für die Auslegung zieht, kann eine unionsrechtskonforme Auslegung nicht allein unter Hinweis auf den Wortlaut des § 16 Abs. 2 ArbZG als unmöglich bezeichnet werden.
  • Der Zweck des § 16 Abs. 2 ArbZG ist es (und zwar, soweit ersichtlich, nach allgemeiner Ansicht), der Aufsichtsbehörde zu ermöglichen, die Einhaltung des ArbZG zu kontrollieren.
  • Der vorgenannte gesetzgeberische Zweck kann auf Grundlage des bisherigen überwiegend vertretenen Verständnisses des § 16 Abs. 2 ArbZG, wonach nur die 8 Stunden überschreitende werktägliche Arbeitszeit (§ 3 S. 1 ArbZG) sowie die ganze Arbeitszeit an Sonn- und Feiertagen aufzuzeichnen ist, nicht erreicht werden kann. Denn auf Basis dieser Aufzeichnungen ist keine Kontrolle möglich, ob die diese 8 Stunden überschreitende werktägliche Arbeitszeit ausgeglichen worden ist (§ 3 S. 2 ArbZG) und ob Ruhepausen (§ 4 ArbZG) sowie Ruhezeiten (§ 5 ArbZG) eingehalten worden sind. Dies hat in etwas anderem Kontext im Übrigen das BAG bereits im Jahr 2003 schon so gesehen und dazu ausgeführt (BAG vom 6.5.2003, 1 ABR 13/02): Der Arbeitgeber hat seinen Betrieb so zu organisieren, dass er die Durchführung der geltenden Gesetze usw. selbst gewährleisten kann. Der Betriebsrat benötigt die Information über Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit an jedem Arbeitstag, um die Einhaltung u.a. des § 5 Abs. 1 ArbZG (Ruhezeit) überprüfen zu können. Dies vermag der Betriebsrat nicht zu überwachen, wenn ihm nicht das Arbeitszeitende und der erneute Arbeitszeitbeginn bekannt sind. Der Arbeitgeber hat die betreffenden Informationen deshalb auch dann zu beschaffen, wenn er selbst meint, auf sie verzichten zu können. Er muss sich deshalb über die genannten Daten in Kenntnis setzen und kann dem Betriebsrat die Auskunft hierüber nicht mit der Begründung verweigern, er wolle die tatsächliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer wegen einer im Betrieb eingeführten „Vertrauensarbeitszeit” bewusst nicht erfassen.
  • Aufgrund des vorgenannten Gesetzeszwecks würde eine über den reinen Wortlaut des § 16 Abs. 2 ArbZG hinausgehende Auslegung, die zu einer umfassenderen Aufzeichnungspflicht führt, nicht klar gegen Willen des Gesetzgebers erfolgen (eher im Gegenteil). 
  • Und auch die vom EuGH dem nationalen Gesetzgeber eingeräumten Spielräume für die Regelung der "Details" der Zeiterfassung dürften allein kein Hindernis für eine solche Auslegung darstellen. Denn diese Spielräume dürften, solange eine gesetzgeberische Regelung nicht erfolgt, eben den die Zeiterfassung regelnden Personen zustehen, wie z.B. den Betriebsparteien oder - in betriebsratslosen Betrieben - dem Arbeitgeber (bei der Ausübung seines Weisungsrechts).

Bewertung und Ausblick

Im Ergebnis lassen sich also auch für eine unionsrechtskonforme Auslegung des § 16 Abs. 2 ArbZG im Sinne der Vorgaben des EuGH Argumente finden (zu beachten ist dabei aber, dass Art. 6 der Arbeitszeit-Richtlinie nicht auf eine tägliche, sondern auf eine wöchentliche Höchstarbeitszeit - 48 Stunden - abstellt). Es bleibt abzuwarten, ob und wann diese Frage (höchst)richterlich behandelt und entschieden wird sowie ob und wann der Gesetzgeber ggf. doch noch tätig werden wird. Regelungsvorschläge dazu gibt es bekanntlich einige. Und auch so manche Sonderregelung sieht bereits eine umfassende Pflicht zur Zeiterfassung vor, an der man sich jdf. orientieren könnte (z.B. § 17c Abs. 1 AÜG, § 17 S. 1 MiLoG, § 19 Abs. 1 S. 1 AEntG, § 21a Abs. 6 ArbZG, § 6 Arbeitnehmerrechte-SicherungsG Fleischwirtschaft, § 8 Offshore-ArbZV).

 

In der Zwischenzeit wird das Thema auch aus anderer Richtung  - und ggf. sogar unabhängig von den Vorgaben des EuGH - angegangen, wie eine aktuelle Entscheidung des LAG Hamm zeigt (LAG Hamm vom 27.7.2021, 7 TaBV 79/20). Danach soll dem Betriebsrat bei der Einführung einer elektronischen Zeiterfassung ein Initiativrecht zustehen (entgegen BAG vom 28.11.1989, 1 ABR 97/88). Auch insoweit kann man auf die weitere Entwicklung gespannt sein (die gegen den Beschluss des LAG Hamm eingelegte Rechtsbeschwerde ist beim BAG unter dem Az. 1 ABR 22/21 anhängig).

DR. ARTUR KÜHNEL
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Partner
Tel.: +49 40 34 80 99 0
E-Mail: kuehnel@vahlekuehnelbecker.de

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